Zweites Solo-Album, komplett anderer Arbeitsweise: Erneut produziert von Ex-Wir Sind Helden-Drummer Pola Roy, brilliert Anna Erhard auf CAMPSITE mit abenteuerlustigen Indiepop-Grooves und trockenem Humor.
Die Berliner Singer/Songwriterin Anna Erhard hat ihrem zweiten Soloalbum den Namen CAMPSITE gegeben. Das Titelstück jedoch ist wohlgemerkt kein sehnsüchtig gezupftes Gitarrenlied fürs Lagerfeuer. Im Gegenteil, „Campsite“ besitzt einen coolen Beat, um den herum es scheppert und schellt. Die Gitarren erzeugen allerhand Störgeräusche, Anna Erhard trägt eine Reihe von Campingplatzerinnerungen mit einer Stimme vor, die klingt, wie man sich fühlt, wenn nach einer großartigen, aber kurzen Nacht im sich aufheizenden Zelt von der Vormittagssonne geweckt wird.
In den 90er-Jahren haben Alternative-Acts wie Beck oder Luscious Jackson eine solche Art von Deadpan- Slacker-Pop gespielt. Jetzt bringt Anna Erhard diesen Sound zurück – und noch einige Klänge mehr: Das Album CAMPSITE – wie schon das vorherige Album produziert von Pola Roy, früher Schlagzeuger von Wir Sind Helden – besitzt einen ungeheuren Reichtum an Stilen, Melodien und Storys. CAMPSITE ist die Platte, die man in diesem Sommer braucht. Weil sie Ideen für ein Leben in einer Zeit bietet, in der bis vor kurzem selbst in aufregendsten Städten vieles still und geschlossen war. Das Leben geht nun wieder los, eingeleitet von der Frage: Wohin soll’s denn jetzt gehen?
Anna Erhard – geboren in der Schweiz, seit drei Jahren in Berlin zu Hause – schlägt einen Campingplatz vor. CAMPSITE ist nach SHORT CUT (2021) ihr zweites Album unter eigenem Namen. Zuvor war Anna Erhard Sängerin und Gitarristin der Baseler Indiefolk-Band Serafyn, die Mitte der 10er-Jahre zwei Alben
veröffentlicht hatte. Danach fühlte es sich für Anna Erhard jedoch so an, als sei der Bandsound auserzählt. Sie zog nach Berlin, spielte erste Solo-Gigs, ließ sich beim Songwriting vom neuen Zuhause inspirieren. „Beziehungen und Begegnungen in Berlin sind flüchtiger, das gesamte Leben ist mehr im Fluss“, sagt sie. „Klar, dass diese Erfahrungen meine Songs beeinflussen.“
Auf ihrem Solo-Debüt SHORT CUT hatte sie nach kurzen Wegen durch dieses urbane Dickicht gesucht. CAMPSITE dagegen klingt nach einer Standortbestimmung. Anna Erhard hat ihr Songwriting komplett auf links gedreht. Bislang war sie als Singer/Songwriterin eher konventionell unterwegs, sprich: Erst hat sie die Songs auf der Gitarre geschrieben, dann ging es ins Studio. Weil die Pandemie die Normalität sowieso ausgehebelt hatte, ergab es sich durch die Umstände, dass Anna Erhard und Pola Roy für das neue Album eine andere Arbeitsweise entwickelten: Die beiden verabredeten sich in Pola Roys Kreuzberger Studio und experimentierten. „Wobei das bei uns so aussah, dass Pola und ich zusammen Beats und Synthies gespielt haben“, sagt Anna Erhard. Aus diesen Elementen heraus erwuchsen Schritt für Schritt Text- Bausteine, Melodiefragmente – und schließlich Songs.
Vielen Stücken auf CAMPSITE hört man diese Entstehungsgeschichte zwischen Improvisation und Experiment an: In „Guestroom“ erzählt Anna Erhard von misslungenen Plänen, die Isolation zu beenden, begleitet wird sie dabei von einem weit nach vorne gemischtem Bass, Hip-Hop-Beats, allerhand Percussion und einem Pocket-Piano. Wer immer schon mal wissen wollte, wie ein Mashup aus den Eels und Trio klingt: ungefähr so. „Picnic At The Seaside“ basiert auf Surf-Beat und Surf-Gitarre, „Idiots“ entfaltet sich auf einen Indierock-Shuffle, zu dem Anna Erhard eine hallig-verträumte Gitarre spielt und über Menschen singt, die sich Hunde zulegen, um der Angst zu entkommen, irgendwann allein dazustehen. Da ist er wieder, ihr trockener Humor, der CAMPSITE so großartig macht – man schaue sich dazu gerne auch die Promo-Fotos und Videos dieser Künstlerin an. Einen besonderen Sinn für Humor besitzt auch der Song „Horoscope“, für den sich Anna und Pola im Refrain eine Rhythmusverschleppung ausgedacht haben, die es so in er Geschichte der Popmusik noch nicht gegeben hat: Wer das Taktmaß mitzählen will, hat schon verloren.
Wer sich nun fragt, ob Anna Erhards grandiose Songwriterinnen-Qualitäten beim Konzept von CAMPSITE auf der Strecke geblieben sein könnten: sind sie nicht. Das atemberaubende Americana-Stück „Family Time“ erzählt eine Familiengeschichte, der unwiderstehliche Ohrwurm „Three Tons Of Steel“ handelt vom gemeinsamen Untertauchen zweier Freunde: „We let the sea gods/ sink us“ – der Indiepop- Song gehört in jedes Radioprogramm, das seinen Zuhörer*innen ein Geschenk machen will.
Es macht viel Spaß, Anna Erhard auf ihrer Reise durch diese zehn neuen Songs zu begleiten. Zu erkennen, wie sie spielerisch die Stimmungen ihrer Musik verändert. Wie sie die Wörter mal fließen lässt, mal sehr genau formuliert. Und wie sie damit Wege findet, dem Genre Indie-Singer/Songwriter neue Perspektiven zu eröffnen: CAMPSITE ist ein Album für drinnen und draußen. Für extro- und introvertierte Momente. Für den hellen Tag und die dunkle Nacht.